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Donnerstag, 10. September 1998
© AG für die Neue Zürcher Zeitung NZZ 1998


Beim Radeln Berge versetzen oder Serpentinen in der Bergwand

Die grossen Bündner Pässe per Velo

In der Schweiz gibt es siebzehn Strassenpässe über 2000 m, zehn befinden sich ganz oder halb auf Bündner Territorium. Wer eine Schlaufe durchs weitverzweigte Graubünden plant, muss in andere Kantone oder nach Italien mit weiteren Zweitausendern ausweichen. Schon bei der Planung blieb uns der Atem weg. Und erst recht jetzt, als wir in Andermatt (1447 m) aus dem Zug klettern. Wie eine Wand steht vor uns der Oberalppass (2044 m), der westlichste Übergang auf unserem Menu, mit sechshundert Höhenmetern zum Anwärmen geeignet.

Der sportliche Radler, die ambitionierte Velodame braucht nicht viel zum Glück: ein gut gewartetes Velo, zwei Packtaschen mit der Zahnbürste, den notwendigsten Textilien und dem kleinen Schwarzen für die Abendstunden. Der Rest ist Spass, Schweiss und Verrücktheit. Absurd gar dünkt die nichtradelnde Menschheit der Vorsatz, über mehrere Alpenpässe radeln zu wollen, Hunderte von Kilometern und Tausende von Höhenmetern sich durch Hitze, Regen oder Schneetreiben zu kämpfen. Doch das Widersinnige kann wunderbar sein. Die moderne Technik hat das Fahrrad auf ein filigranes Minimum reduziert, das zum fast immateriellen Instrument traumhafter Bewegung wird. Die perfekten Strassen des Pässekarussells in Graubündens Landschaften lassen ein solches Unternehmen vollends zu einer Art psychedelischem Gesamtkunstwerk mit sportlichem Charakter werden. Religiös verzückt gar klingt es in der Werbung des kantonalen Verkehrsvereins, dessen Formel kurz und bündig lautet: «Beim Biken Berge versetzen.»

Nach der Schwärmerei eine geographische Bestandesaufnahme: In der Schweiz gibt es siebzehn Strassenpässe über 2000 Meter, zehn befinden sich ganz oder halb auf Bündner Territorium. Wer eine Schlaufe durchs weit verzweigte Graubünden plant, muss in andere Kantone oder nach Italien mit weiteren Zweitausendern ausweichen. Schon bei der Planung blieb uns der Atem weg. Und erst recht jetzt, als wir in Andermatt (1447 m) aus dem Zug klettern. Wie eine Wand steht vor uns der Oberalppass (2044 m), der westlichste Übergang auf unserem Menu, mit sechshundert Höhenmetern zum Anwärmen geeignet. Hunderte von Radfahrern sind unterwegs, dicke, dünne, alte, junge auf den verschiedensten Zweirädern, zum Teil mit riesigen Packtaschen. Man grüsst sich keuchend, ermuntert sich gegenseitig. Der motorisierte Verkehr ist rege, doch auch bei den Automobilisten zeigt die Idee vom Veloland Schweiz eine Wirkung, denn sie sind ausnehmend rücksichtsvoll. Schon sind wir oben, haben kaum geschwitzt, das Bidon ist noch halbvoll. Windjacke überziehen, Helm auf, und der Fahrtwind saust um die Ohren. Nach Disentis (1142 m), in den ersten schweren Rampen hinauf zum Lukmanierpass (1914 m), legt sich die oberalpine Euphorie. Der Schweiss tropft vom Kinn hinunter auf den Rahmen des psychedelischen Gefährts. Den Oberalp bezwangen wir schwatzend, jetzt redet keiner mehr. Dabei ist der Lukmanier nicht einmal ein Zweitausender! Nicht besonders stark, aber endlos ist die Steigung hinauf zum Stausee, wir haben eiskalten Gegenwind. Die Getreideriegel sind weggegessen, die Bananen ebenfalls, das Bidon leer. Wir erreichen die Galerie, von selbst saust es hinunter zum Hospiz, wo wir den Wirt vom übriggebliebenen Kuchen- und Nussgipfelbestand befreien. Anderthalb Stunden später sind wir in Bellinzona (241 m).

Violette Köpfe

San Bernardino (2065 m) klingt zärtlich, doch vor uns liegt mit 55 Kilometern der längste Aufstieg der ganzen Reise, und wir haben 1800 Höhenmeter zu bewältigen, eine Reise aus den Tropen in die Berge. Das Misox ist wunderbar und grauenvoll zugleich. Ein Tal der Strassen. Die meisten Autos benützen zum Glück die N 13, wir haben die Kantonsstrasse für uns. Einer von uns setzt an zu einem Vortrag über die Geschichte der Bündner Passstrassen, doch nach Soazza verschlägt es dem Gelehrten auf dem Velo die Sprache. Er kann im Dorf Mesocco noch auf die letzte Palme zeigen, und dann geht es an die Substanz. Ein Veranstalter von Radreisen aus Bordeaux ist mit einer Gruppe samt begleitenden Kleinbussen hier. Wir fahren vorüber an Bildern des Leidens. Menschen mit violetten Köpfen würgen in schweren Gängen den unerreichbaren Höhen entgegen. Im obersten Teil, nach dem Dorf San Bernardino, entdecken wir das Strassenbau-Kunstwerk, von dem der plötzlich verstummte Gelehrte auf dem Velo wohl reden wollte, regelmässige Serpentinen auf perfekt restaurierten Stützmauern, harmonisch in die Landschaft gelegt, oben ein See in seinem felsigen Bett, ein Hospiz, das Ganze ein Bild aus dem neunzehnten Jahrhundert.

Als wir nach der Schussfahrt durch das Rheinwald und die Via Mala in Thusis eintreffen, steht ein Zug nach Filisur (1032 m) bereit. Unser Appetit auf die stark befahrene Strasse dorthin (25 Kilometer) hält sich nach den gehabten Wonnen in Grenzen, und wir steigen ein. Eine Schmerzgrenze scheint überwunden zu sein, auch die weniger Trainierten in der Gruppe haben sich in den wenigen Tagen schon eine Form aufgebaut. So wird die Fahrt hinauf zum Albulapass (2312 m) zum reinen Genuss, und schon vor der Passhöhe entbrennt die Diskussion, welcher Pass der schönere sein, der San Bernardino oder der hier. Dass wir nicht die ersten hier sind, schliessen wir aus einem Schild in der Gaststube. Darauf werden die Radlerherrschaften gebeten, sich bitte im WC umzuziehen und nicht hier in der gastronomischen Öffentlichkeit ihren Bauch zu entblössen. Ja, so in ihr Tun versunken sind Velofahrer zuweilen und merken gar nicht, dass jemand an ihren freizügigen Kostümwechseln Anstoss nehmen könnte.

Die zwanzig Kilometer von La Punt (1687 m) bis Zernez (1479 m) können am rechten Ufer des Inn auf einem Veloweg zurückgelegt werden. Nach Zuoz wird das mit schmalen Reifen auf dem groben Schotterweg aber ein schwieriges Unterfangen; mit dem Rennvelo benützt man ab Zuoz besser die Kantonsstrasse, um zum Ausgangspunkt für den nächsten Brocken zu gelangen. Der heisst Ofenpass (2149 m) und hat eine trügerische Topographie. Gleich nach Zernez brennen die Steigungsprozente in den Oberschenkeln, dann verleitet ein sanfteres Zwischenstück durch die Wälder des Nationalparks, wo es sehr gut rollt, zu leichtsinnigem Umgang mit den Kräften. Man vergisst zu essen und zu trinken. Im letzten Kilometer muss man dafür büssen, denn der Pass bäumt sich wie eine Wand vor einem auf, man glaubt, man falle vom Rad. Zum Essen und Trinken ist es zu spät, und so gibt es nur eines: eine Viertelstunde fürchterlich leiden.

Im Dorf Santa Maria (1375 m) weist ein Schild nach rechts zum Umbrailpass (2501 m), dem kleinen Bruder des Stilfser Jochs. Am schlimmsten ist der Umbrail am Anfang, wo er anscheinend in der Direttissima zum Ziel will, dann folgen drei Kilometer Naturstrasse. Auf der Passhöhe geht es gemächlich zu und her. Die kleine Zollstation wird über Nacht geschlossen, die Zöllner gehen nach Feierabend ins Hospiz nebenan. Nach der spektakulären Abfahrt auf frisch asphaltierter Strasse nach Bormio (1217 m) ist eine Entscheidung zu treffen. Soll man via Livigno (1810 m) und Berninapass (2328 m) zurück nach Graubünden, oder soll man den Weg über Tirano (436 m) und das Puschlav wählen? Wir wählen die Livigno-Variante und würden es nicht mehr tun. Die anforderungsreiche Strecke führt über drei weitere Zweitausender-Pässe mit den Namen Foscagno (2291 m), Eira (2208 m) und Forcola di Livigno (2315 m). Sie lohnt das Leiden schlecht, denn der motorisierte Verkehr aller Kaliber in die grässliche Zollfreiheit Livigno ist schlimm. Nächstes Mal fahren wir nach Tirano und nehmen dort die Bahn bis hinauf auf den Berninapass, denn auch das Puschlav ist ein stark befahrenes Strassental. Dasselbe gilt für das Engadin von Samedan (1721 m) bis hinauf zum Malojapass (1815 m), doch die Abfahrt durch das Bergell hinunter nach Chiavenna ist ein von Minute zu Minute wärmer werdender Rausch, und vom Verkehr merken wir hier weniger, weil wir bergab gleich schnell fahren wie die Autos.

Stunden der Wahrheit

Im Caffè Svizzero in Chiavenna (325 m) bereiten wir uns beim Cappuccino auf die nun folgenden Stunden der Wahrheit vor, und diese Wahrheit heisst Splügenpass (2113 m). Dort hinauf führt eine der verrücktesten Strassen der Alpen. Ihr Kernstück sind ein Dutzend enger Serpentinen, die sich eine Felswand hochkringeln. Weil diese Felswand so steil ist, kann man von der einen Serpentine auf die nächste hinunterspucken, und manche Automobilistengattin verbietet es ihrem Chauffeurgatten, je über diesen Pass zu fahren. Die Velofahrergattinnen verbieten nichts. Sie radeln selber mit.

Mit dem leichtesten Pass, mit dem Oberalp, haben wir angefangen. Den schwersten, den Splügen, überwinden wir am Schluss. So kann absurdem radlerischem Tun doch etwas Logisches anhaften. In der Kneipe unter dem Splügenpass fragt uns ein Gast nach unserer Route, und wir geben ihm Auskunft. Er: «Seid ihr wahnsinnig?» Wir: «Ja, aber es ist schön.» Am Heck seines Campers hängen zwei Edelrenner. Ist denn das logisch?

Dres Balmer

 

Informationen

Allgemein. Die beschriebene Route führt über elf Pässe, ist 550 km lang und weist 11 000 Höhenmeter auf. In allen Talorten findet man Hotels und Läden, in den meisten eine Velowerkstatt, so dass man das Gepäck klein halten kann.

Ausrüstung. Rennrad, Tourenvelo oder Mountainbike mit Pumpe, Flickzeug und Bidon. Für den Gepäcktransport bewähren sich kleine Sacochen, die am Gepäckträger befestigt werden. Weniger zu empfehlen sind Rucksäcke. In Rennfahrerkleidern fährt es sich am bequemsten, und man kann sie am Abend auswaschen. Sacochen und relativ diskrete Velokleidung kann man heute für wenig Geld in Warenhäusern kaufen. Ein Helm für die Abfahrten ist selbstverständlich.

Unterkunft. Reizvoll und preisgünstig ist es, die Tagesetappe auf der Passhöhe zu beenden und dort zu übernachten. Ausser dem San-Bernardino-Pass bieten alle Übergänge diese Möglichkeit. Oberalp: Hotel Piz Calmot, Tel. (041) 887 12 33; Lukmanier: Hospezi S. Maria, Tel. (081) 947 51 34; Albula: Hospiz, Tel. (081) 407 12 96; Ofen: Hotel Süsom Givè, Tel. (081) 858 51 82; Umbrail: Hotel Astras, Tel. (081) 858 57 82; Bernina: Ospizio, Tel. (081) 844 03 03; Splügen: Berghaus Splügenpass (1 km unterhalb der Passhöhe, auf Schweizer Seite), Tel. (081) 664 12 19. Im Juli/August muss man reservieren.

Velo und öffentlicher Verkehr. Der ganze Kanton Graubünden hat ein hochentwickeltes öffentliches Verkehrsnetz, das zur Überwindung von Durststrecken gute Dienste leistet. Die Rhätische Bahn, Postauto Graubünden und mehrere Bergbahnen bieten den sogenannten Regionalpass plus an. Er gilt an 7 oder 15 Tagen als Halbtaxabonnement und an 3 bzw. 5 frei wählbaren Tagen als Generalabonnement. Er ist vor allem für ausländische Gäste attraktiv, die kein Halbtaxabonnement besitzen. Preise für die 2. Klasse: 7 Tage 130 Fr., 15 Tage 183 Fr. Auf welchen Postautokursen Velos transportiert werden, entnimmt man dem Velofahrplan der SBB. Die Tageskarte für den Velo-Selbstverlad kostet höchstens 15 Fr. Weitere Informationen bei Graubünden Tours, Bahnhofstrasse 25, 7002 Chur, Tel. (081) 254 91 10, Fax (081) 254 91 11.

Neue Zürcher Zeitung vom 10.09.98